Norwegens Fußballerinnen jubeln über den WM-Titel 1995. © imago/Norbert Schmidt

Schweden 1995

Pelleruds Masterplan im Mittsommer

Bei der zweiten WM-Endrunde in Schweden kamen die deutschen Fußballerinnen dem ersten Titel ganz nah - doch die von Trainerfuchs Even Pellerud trainierten Norwegerinnen waren unbezwingbar. Erst scheiterte der hoch gehandelte Titelverteidiger USA an den Skandinavierinnen, dann ging Europameister Deutschland im Finale als Verlierer vom Platz.

Wenn Silvia Neid an diesen verregneten Sonntag im Råsundastadion in Solna bei Stockholm zurückdenkt, dann ist sie immer noch ein bisschen ärgerlich. "Wir waren sehr nah dran, Weltmeister zu werden", erinnert sich die damalige Kapitänin der deutschen Frauen-Nationalmannschaft im Gespräch mit dem ARD Hörfunk an das Endspiel gegen Norwegen. "Die erste Halbzeit war total verregnet, und wir haben auch ein bisschen schläfrig begonnen und zwei richtig doofe Tore kassiert. In der zweiten Halbzeit haben wir dann versucht, besser nach vorne zu spielen. Das haben wir auch gemacht, aber leider kein Tor mehr geschossen. Und so mussten wir uns dann mit diesem Vize-Weltmeister zufriedengeben." Neid hatte sich bei der WM 1991 verletzt und sich auf Schweden umso akribischer vorbereitet. Sie meldete sich sogar arbeitslos, um täglich trainieren zu können. Doch so sehr das 0:2 vor 17.158 Zuschauern auch schmerzte: Die von Even Pellerud trainierten Norwegerinnen waren in diesem Turnier sowohl physisch als auch taktisch das beste Team. Das hatten vor den Deutschen auch schon die Titelverteidigerinnen aus den USA anerkennen müssen.

Die ersten Olympia-Tickets

Klein, aber fein - so in etwa könnte man diese zweite WM-Endrunde beschreiben. Schweden ist ein Land mit einer langen Tradition im Frauenfußball, und die Gastgeber übertrugen ihre beschwingte Leichtigkeit zur Zeit der Mittsommer-Feste auf das Turnier. Im Bewusstsein, dass diese Endrunde nicht die Zuschauermassen anlocken würde wie die WM-Premiere vier Jahre zuvor in China (510.000), wählten die Schweden mit Ausnahme von Solna bewusst Austragungsorte mit nur mittelgroßen Stadien: Die Arenen in Gävle, Helsingborg, Karlstad, Västeras und das größere Råsundastadion lockten in 26 Spielen insgesamt 112.213 Fans an - 4.315 im Schnitt. Neben dem Kampf um die WM-Krone ging es erstmals auch um die Qualifikation für Olympia, denn bei den Sommerspielen ein Jahr später sollte Frauenfußball seine olympische Premiere feiern. Neu war auch die Regel, dass jedes Team einmal pro Halbzeit eine zweiminütige Auszeit nehmen durfte - ein Experiment, das schnell als gescheitert betrachtet wurde, weil diese Möglichkeit kaum genutzt wurde.

Norwegen entthront US-Girls

Als großer Favorit waren die USA angereist, doch dann verletzte sich im Auftaktspiel gegen China (3:3) Michelle Akers bereits nach sieben Minuten am Knie, und der Titelverteidiger musste ohne die Torschützenkönigin von 1991 auskommen. In der Vorrunde setzten sich die Amerikanerinnen nur dank der besseren Tordifferenz als Gruppensieger vor China durch. Das 4:0 gegen Japan im Viertelfinale spielte der Favorit noch locker herunter, dann stoppte Norwegen das Team von Trainer Tony DiCicco. Die Entscheidung in Västeras fiel bereits in der zehnten Minute, als sich die spätere Torschützenkönigin Ann Kristin Aarønes bei einer Ecke am höchsten schraubte und den Ball über die Linie drückte. "Es gibt nur wenige Fußballerinnen, die so groß sind wie ich. Das habe ich ausgenutzt", frohlockte die 1,82 Meter große Stürmerin nach der gelungenen Revanche für die Finalniederlage 1991. Die Amerikanerinnen trafen nach der Pause noch zweimal die Latte, doch der Traum vom zweiten Titelgewinn war passé. Im Spiel um Platz drei besiegte das Team um Starspielerin Mia Hamm China mit 2:0. Mit Bronze um den Hals und einem selbstgebastelten Olympia-Spruchband ("We'll be back in Atlanta") verabschiedeten sich die Powergirls aus Schweden. Als erste Fußball-Olympiasiegerinnen der Geschichte feierten sie ein Jahr später ein rauschendes Comeback.

Der WM-Stern von Birgit Prinz geht auf

Das Endspiel wurde zu einer europäischen Angelegenheit, weil Deutschland im zweiten Halbfinale in Helsingborg China mit 1:0 schlug. Ein an Höhepunkten armes Spiel entschied Bettina Wiegmann zwei Minuten vor dem Ende mit einem Volleyschuss aus 14 Metern. China hatte zuvor im Viertelfinale das erste Elfmeterschießen bei einer Frauen-WM gegen Schweden gewonnen, während die Europameisterinnen von Trainer Gero Bisanz England mit 3:0 aus dem Weg räumten. In der Gruppenphase hatten die Deutschen nach dem 1:0-Auftakterfolg gegen Japan eine unangenehme Überraschung gegen Schweden erlebt. Die von Pia Sundhage angeführten Gastgeberinnen drehten die Partie nach einem 0:2-Rückstand in den letzten zehn Minuten und gewannen 3:2. Ein 6:1 gegen Brasilien sicherte dem DFB-Team den Gruppensieg vor den punktgleichen Schwedinnen. In dieser Partie erzielte die damals 17 Jahre alte Birgit Prinz das erste ihrer insgesamt 14 WM-Tore.

Riise ein Riese

Norwegens Trainer Even Pellerud (l.) mit Hege Riise nach dem WM-Sieg 1995 © imago/Norbert Schmidt

Erfolgstrainer Even Pellerud (l.) mit WM-Star Hege Riise.

Am Finaltag in Solna ließen sich die Norwegerinnen dann weder vom strömenden Regen beeindrucken noch von der Tatsache, dass ihre Kapitänin Heidi Støre eine Gelb-Rot-Sperre absitzen musste. Die physisch sehr starken und mit ihrem schnellen Umschaltspiel kreuzgefährlichen Skandinavierinnen nutzten schon in der ersten Hälfte zwei Unachtsamkeiten in der deutschen Hintermannschaft, die nach dem Kreuzbandriss von Doris Fitschen von der reaktivierten Ursula Lohn dirigiert wurde. Die später zur besten Turnierspielerin gewählte Hege Riise (37.) und Marianne Pettersen (40.) machten den ersten und bis dato einzigen WM-Sieg der Norwegerinnen perfekt - mit 23:1 Toren. "Wir hatten vor dem Turnier gegen Männermannschaften gespielt und sie geschlagen. Wir waren voller Energie", lobte Riise in einem FIFA-Interview später die Strategie von Trainerfuchs Pellerud. "Je mehr Partien wir dann gewannen, desto unmöglicher erschien es uns, auch mal ein Spiel zu verlieren." Ganz sicher hatte Norwegen bei dieser Endrunde nicht die technisch beschlagensten Spielerinnen, aber der Teamgeist der "Gresshoppene" (Grashüpfer), die jeden Sieg mit einer Jubelraupe feierten, war legendär. Riise gewann nach der WM in Norwegen sogar die Wahl zum "Fußballer des Jahres" - vor ihren männlichen Kollegen.

Letzte WM für Bisanz, Neid und Mohr

Während Norwegens Fußballerinnen über den WM-Titel 1995 jubeln, lassen die Deutschen Heidi Mohr, Patricia Brocker und Ursula Lohn (v.l.) die Köpfe hängen. © imago/Norbert Schmidt

Die deutschen Spielerinnen ließen nach dem Finale die Köpfe hängen.

Während die meisten Zuschauer am Finaltag im Råsundastadion mitjubelten - die schwedischen Fans waren nach dem Viertelfinal-Aus ihrer Mannschaft zum Nachbarn "übergelaufen" -, schob die im Privatwagen zum Turnier gereiste Fitschen auf der Tribüne Frust. Die spätere Managerin des deutschen Frauen-Nationalteams durfte vier Jahre später in den USA noch einmal - abermals vergeblich - um den WM-Titel spielen. Dagegen nahmen nach der für Deutschland enttäuschenden Olympia-Premiere in Atlanta 1996 sowohl Trainer Bisanz als auch die Führungsspielerinnen Heidi Mohr und Silvia Neid ihren Hut. Nah dran war für ihre WM-Träume am Ende nicht genug.

Dieses Thema im Programm:

FIFA Frauen WM 2019 | 08.06.2019 | 16:00 Uhr

Stand: 23.04.19 14:35 Uhr