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Immer wieder Videobeweis: "Stürzt WM ins Chaos"

von Florian Neuhauss aus Grenoble

Auch bei der WM in Frankreich sorgt der Videobeweis für Missmut und negative Schlagzeilen. Besonders hart hat es nun die Schottinnen erwischt. Die ARD-Experten üben harsche Kritik.

In der dritten Minute der Nachspielzeit parierte die Schottin Lee Alexander im abschließenden Vorrundenspiel gegen Argentinien einen Elfmeter. So blieb es bei der 3:2-Führung für die Britinnen. Ihre Mitspielerinnen feierten die Torhüterin, schien das Team so doch auf dem besten Weg, als einer der vier besten Gruppendritten ins Achtelfinale einzuziehen. Doch die Freude war nur von kurzer Dauer. Nach Videobeweis wurde der Strafstoß wiederholt, weil sich Alexander schon vor dem Schuss ein paar Zentimeter von ihrer Torlinie entfernt hatte. Deshalb sah die Keeperin erst Gelb - und kassierte Sekunden später das 3:3 von Florencia Bonsegundo - für Schottland ist das Turnier vorbei. Es war nicht der erste Videobeweis bei dieser WM, nach dem ein Elfmeter wiederholt wurde. Aber selten passte das Sprichwort "himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt" besser als aus schottischer Sicht am Mittwochabend (19.06.19) in Paris.

Regel ist eigentlich gelockert worden

Martina Knief und Bernd Schmelzer © ARD Foto: Bettina Lenner, Christian Spielmann

Martina Knief und Bernd Schmelzer sind seit vielen Jahren für die ARD in Sachen Frauenfußball im Einsatz.

"Es ist der Wahnsinn, dass auf dem Rücken der Torhüterinnen bei dieser WM ein Exempel statuiert wird", sagte ARD-Kommentator Bernd Schmelzer sportschau.de. "Vor allem frage ich mich, wo das hinführen soll. Wenn es das erste Elfmeterschießen gibt: Wird dann jeder Elfmeter erst noch Zentimeter-genau untersucht?" Ein weiteres Problem könnte die Verwarnungspraxis werden. "Sieht die Torhüterin, wenn sie sich das zweite Mal bewegt hat, Gelb-Rot und fliegt vom Platz?"

Kurioserweise wurde die Regel vor der WM eigentlich gelockert. Vorher mussten die Torleute mit beiden Füßen auf der Torlinie bleiben, nun muss das nur noch für einen Fuß gelten. "Was neu ist, ist die Kontrolle durch den Videoassistenten", erklärte ARD-Frauenfußall-Expertin Nia Künzer, die es "sehr unglücklich findet, dass der Videobeweis, der für alle Spielerinnen und die meisten Schiedsrichterinnen Neuland ist, bei so einem Großereignis eingeführt wird. Und dass so ein Elfmeter nun womöglich quali-entscheidend ist, finde ich sehr bitter."

"Schade, dass es ausgerechnet die Torhüterinnen trifft"

Martina Knief hat es kommen sehen. "Mit dem Videobeweis klappt es so, wie ich es vorher erwartet habe - nämlich schlecht", sagte die ARD-Hörfunkreporterin, die seit 1995 von jedem großen Turnier berichtet hat. "Meine Prognose war, dass der Videobeweis die WM ins Chaos stürzen wird, und ich glaube, dass mich die Vorrunde bestätigt hat."

Dass es ausgerechnet die Torfrauen am härtesten trifft, findet Knief schade: "Denn das Torhüterinnen-Spiel hat sich enorm verbessert. Insgesamt finde ich ihre Leistungen sehr gut. Für mich sind die Torhüterinnen eigentlich die Gewinnerinnen der WM - und nun sind sie zugleich die Gekniffenen." Sie hält es mit Almuth Schult. Die deutsche Nationaltorhüterin hatte schon vor einigen Tagen angeregt, dass man über diese Regel nach der WM unbedingt noch mal reden sollte.

Auch Abseitssituationen sorgen für Ärger

Die ehemalige Fußball-Nationalspielerin Nia Künzer © ARD Foto: André Müller

Nia Künzer machte Deutschland 2003 mit ihrem Golden Goal zum Weltmeister.

Dabei ist die Elfmeterproblematik nicht die einzige Baustelle, die der Videobeweis mit sich gebracht hat. Schmelzer stößt übel auf, dass die Schiedsrichterassistentinnen bei den meisten Angriffen sehr lange damit warten, bis sie die Fahne heben, um Abseits anzuzeigen. "Sie trauen sich überhaupt nicht mehr einzugreifen - die Assistentinnen werden so ad absurdum geführt", meinte der Kommentator. "Und die Spielerinnen müssen bei über 30 Grad voll zu Ende spielen, obwohl eigentlich längst wegen Abseits hätte abgepfiffen werden müssen." Er sei schon vorher kein Freund des Videobeweis gewesen - "und ich bin nicht überzeugt worden".

Künzer hofft darauf, dass zumindest noch ein Gewöhnungseffekt eintritt, ihr fehlt aber die Transparenz, worum es in den einzelnen Fällen genau geht. Dieselben Unsicherheiten waren auch in der Bundesliga der Männer schon häufiger Stein des Anstoßes. Die Weltmeisterin hat allerdings besonders die Spielerinnen im Blick und kann ihren Frust gut nachvollziehen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | FIFA Frauen WM 2019 | 23.06.2019 | 17:00 Uhr

Stand: 20.06.19 15:04 Uhr