Boom im Frauenfußball - ohne Deutschland?

von Florian Neuhauss aus Rennes

60.000 Fans in Spanien, 40.000 in England - in Europa boomt der Frauenfußball. Und in Deutschland? Hierzulande soll die WM für Schwung sorgen. Das Nationalteam ist schon in die Offensive gegangen.

Weltrekord! Stolz meldeten die Frauen von Atletico Madrid kürzlich 60.739 Zuschauer beim Ligaspiel gegen den FC Barcelona. Auch in Italien wurde bei der Partie Juventus Turin - ACF Florenz gerade die Bestmarke mit 39.027 Stadionbesuchern nach oben geschraubt. 25.907 Fans beim Duell des französischen Dauermeisters Olympique Lyon gegen Paris Saint-Germain Mitte April dieses Jahres bedeuteten ebenfalls nationalen Bestwert. Zum FA-Cup-Finale der Ladies von Manchester City gegen West Ham United kamen Anfang Mai 43.264 Zuschauer ins Wembley-Stadion, in England gibt es mittlerweile sogar eine reine Profiliga. Und ihr Länderspiel in Schweden im April wird die deutsche Nationalmannschaft nicht nur wegen des 2:1-Sieges nicht so schnell vergessen, sondern weil die 25.882 Fans auf den Rängen in Solna für eine unvergessliche Atmosphäre sorgten.

"Wir erleben gerade eine unglaublich aufregende Zeit für den Frauenfußball, mit dem wohl größten paneuropäischen Interesse, was man bisher gesehen hat, und das Highlight des Jahres steht noch aus - die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft in Frankreich", sagte Nadine Keßler sportschau.de. Die UEFA-Abteilungsleiterin Frauenfußball fügte zufrieden hinzu: "Die Sichtbarkeit unseres Sports hat bedeutend zugenommen, und dies spiegelt sich auch in steigenden Zuschauerzahlen auf Landesebene wider."

"Wo sind die Leute von damals hin?"

Dass die deutschen Frauen so sehr von der Atmosphäre in Schweden schwärmten, kam allerdings nicht von ungefähr. Sie sind den Zuspruch einfach nicht mehr gewöhnt. In den meisten Bundesligaspielen ist die Kulisse nicht mal vierstellig, die Zuschauerzahlen sind enttäuschend. Der Olympia-Sieg 2016 hat keinen Boom ausgelöst. Die Heim-WM 2011 ist längst vergessen. "Damals waren beim Eröffnungsspiel 70.000 Zuschauer. Heute kommen kaum mal 2.000", berichtete Nationalmannschaftskapitänin Alexandra Popp vom VfL Wolfsburg. Der erneute Doublesieger lockt mit einem Schnitt von knapp 1.700 sogar noch die meisten Fans in Deutschland an. Aber: "Wir fragen uns schon manchmal, wo die Leute von damals hin sind."

4.804 Zuschauer beim Heimdebüt von "MVT"

Das DFB-Pokalfinale stellt die jährliche Ausnahme dar. Beim 1:0-Erfolg der "Wölfinnen" gegen Freiburg waren nun 17.048 Zuschauer in Köln dabei. Mehr als in so manchem Jahr zuvor, aber weit von den 26.282 Fans bei der Premiere vor neun Jahren entfernt, als sich der FCR Duisburg und der USV Jena gegenüberstanden. Zum Heimdebüt von Martina Voss-Tecklenburg kamen, nur wenige Tage nach dem Highlight in Schweden, gerade einmal 4.804 Fans ins Paderborner Stadion.

UEFA investiert in Europas Frauenfußball

Nadine Keßler © Florian Neuhauss Foto: Florian Neuhauss

Nadine Keßler ist bei der UEFA mittlerweile Abteilungsleiterin Frauenfußball.

Mitte Mai präsentierte die UEFA im Rahmen des Champions-League-Finales in Budapest eine groß angelegte Strategie, um den Frauenfußball in Europa weiter nach vorne zu bringen. "Zeit zu handeln" heißt die bis 2024 ausgelegte "Roadmap" mit fünf Hauptprioritäten und Zielen. Innerhalb der kommenden fünf Jahre soll sich die Zahl der aktiven Spielerinnen aller Altersgruppen im UEFA-Bereich verdoppeln. Auch die "Königsklasse" und die Europameisterschaft sollen umgestaltet werden, um so auch den kommerziellen Wert zu erhöhen. Präsident Aleksander Ceferin kündigte "bedeutende Investitionen" an, weil die UEFA die Pflicht habe, "den Frauenfußball zu stärken".

Die ehemalige Weltfußballerin und Nationalspielerin Keßler hat den deutschen Fußball natürlich nach wie vor sehr genau im Blick und sieht "speziell in der Frauenbundesliga große Potenziale, die es auszuschöpfen gilt". Die Sichtbarkeit der Liga müsse erhöht werden, der Wettbewerb noch näher an die Fans gebracht und bereits vorhandende Strukturen weiter professionalisiert werden. "Ich hoffe, dass das gesamte Land im Sommer begeistert mitfiebern wird und die Frauen-WM damit ein Ereignis wird, das ganz Deutschalnd betrifft", meinte die 31-Jährige.

Frauenfußballspiele als Event

Beim Gedanken an die Heim-WM und die Unterstützung der Fans bekommt Lena Goeßling "immer noch Gänsehaut. Im ganzen Land herrschte eine Rieseneuphorie, die ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlebt hatte." Popp stellt fest: "Leider hielt der Boom nicht an." Doch spätestens mit dem Antritt von Voss-Tecklenburg hat sich der DFB dieses Problems wieder mit Vehemenz angenommen. "Wir sind uns im DFB der Situation bewusst. Die anderen Länder haben Events aus ihren Spielen gemacht", erklärte "MVT", die bei der Generalprobe gegen Chile am Feiertag auf ein volles Haus in Regensburg hoffte. 15.000 wurden es zwar nicht, die 10.135 Zuschauer waren aber fast so viele, wie beim ersten Länderspiel der Bundestrainerin, als Deutschland vor 10.238 Fans in Laval bei WM-Gastgeber Frankreich mit 1:0 gewann. "Das war eine tolle Kulisse", freute sich Voss-Tecklenburg. Kapitänin Popp fügte hinzu: "So macht Fußball viel mehr Spaß."

"Die Nationalmannschaft ist das Zugpferd"

Sportschau-Frauenfußball-Expertin Nia Künzer © imago/Huebner Foto: Hufnagel

Freut sich auf eine "tolle WM": ARD-Frauenfußball-Expertin Nia Künzer.

Nia Künzer will ohnehin nicht von einem Akzeptanz-Problem sprechen: "Mit dem Wort Problem habe ich grundsätzlich ein Problem. Der Frauenfußball hat sich in Deutschland toll entwickelt. Andere Länder haben jetzt Ausrufezeichen gesetzt. Und in Deutschland müssen alle Akteure zusammenarbeiten. Dabei ist die Nationalmannschaft das Zugpferd." Die Weltmeisterschaft könne nun für einen neuen Schub sorgen. "Ich bin mir sicher, dass das eine tolle WM wird, mit einem tollen Gastgeber und attraktiven Spielen", erklärte die ARD-Frauenfußball-Expertin. "Die Olympia-Quali ist eine richtige Aufgabe, aber zugleich auch das Minimalziel. Wenn das Team weit kommt, könnte das in Deutschland wieder etwas auslösen."

Voss-Tecklenburgs Team geht in die Offensive

Dank eines Werbespots, den die DFB-Frauen zusammen mit einem Sponsor gedreht haben, ist es ihnen gelungen, schon im Vorfeld der WM ein Ausrufezeichen zu setzen. Darin spielen sie mit Vorurteilen und nehmen sich auch selbst auf die Schippe. Für Sätze wie "Wir brauchen keine Eier, wir haben Pferdeschwänze" oder "Wir spielen für eine Nation, die unsere Namen nicht kennt" wurden die Spielerinnen besonders im Internet gefeiert. Über 480.000 Aufrufe hatte das Video allein bei Youtube. Die lange vermisste Aufmerksamkeit - da war sie plötzlich. Und viele, die sonst noch gar nichts von der WM mitbekommen hätten, wussten auf einmal Bescheid. Fehlt also "nur noch" ein erfolgreiches Turnier. Für die Bundestrainerin ist klar: "Die WM wird absolut stimmungsvoll, es sind viele Frauenfußball-begeisterte Länder dabei. Für uns ist es die große Chance, die rückläufige Resonanz im deutschen Frauenfußball zu verändern. Dafür müssen wir mit unseren Erfolgen Emotionen schüren und die für uns nutzen."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | FIFA Frauen WM 2019 | 08.06.2019 | 16:00 Uhr

Stand: 05.06.19 09:32 Uhr