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Alyssa Naeher: Die Heldin, die aus dem Nichts kam

Alyssa Naeher galt für nicht wenige Experten als Schwachpunkt im Kader der USA. Doch beim Halbfinal-Sieg gegen England hat die Keeperin nun bewiesen, selbst auch Weltklasse-Format zu haben.

Das Leben, so heißt es im Volksmund, schreibt die besten Geschichten. Im Falle der US-amerikanischen Nationalkeeperin Alyssa Naeher beginnt diese vor sehr langer Zeit in der verschlafenen Stadt Stratford im Bundesstaat Connecticut. Alyssa ist vier Jahre alt, als sie gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Amanda erstmals zu einem Fußballtraining geht. Sie werden danach von ihren Eltern abgeholt und fallen beim Aussteigen aus dem Auto. Amanda schlägt beim Aufstehen in der Aufregung die Tür zu und klemmt Alyssa die Hand ein, die daraufhin stark anschwillt. "Gut, dass du deine Hände beim Fußball nicht brauchst", sagt Amanda, während sie ihre vor Schmerzen schreiende Schwester tröstet. Amanda irrt gewaltig, wie sich bald zeigt. Denn Alyssa entdeckt ihre Liebe zum Torwartspiel und wird viele, viele Jahre später an einem warmen Sommerabend in Lyon als Keeperin zur Volksheldin.

Gehaltener Strafstoß verhindert Ausgleich

Szene aus dem WM-Spiel England gegen USA: Torhüterin Alyssa Naeher hat den Ball nach einem gehaltenen Elfmeter in den Händen. © dpa picture alliance Foto: John Walton

Alyssa Naeher (M.) hat den Strafstoß von Steph Houghton (r.) pariert.

Wir schreiben den 2. Juli 2019. Bei der Weltmeisterschaft in Frankreich kämpfen die USA gegen England um den Einzug ins Endspiel. Die 53.512 Zuschauer im Parc Olympique Lyonnais sehen von Beginn an ein mitreißendes Spiel. Den Amerikanerinnen wird alles abverlangt. Sie führen wenige Minuten vor Schluss zwar mit 2:1, können sich aber kaum noch aus der Umklammerung der "Three Lionesses" lösen. Dann entscheidet Schiedsrichterin Edina Alves Batista auf Strafstoß für England. Nun sind alle Augen auf die Schützin Steph Houghton und Naeher gerichtet. Die Schlussfrau verzieht keine Miene. Sie steht einfach nur da und versucht, der englischen Kapitänin in die Augen zu schauen. Houghton läuft an, schießt flach in das von ihr aus gesehen linke untere Toreck und muss mit ansehen, wie die Keeperin den Ball unter sich begräbt (84.). Es ist der Moment, in dem Naeher alle ihre Kritiker zumindest kurzfristig verstummen lässt.

Torhüterin muss in große Fußstapfen treten

In der Heimat der 31-Jährigen hatte es bis dahin viele Stimmen gegeben, die Naeher als einzigen Schwachpunkt im Premium-Kader des Titelverteidigers ausgemacht hatten. "Das größte Fragezeichen bei dieser Mannschaft ist die Torhüter-Position", hatte etwa Briana Scurry im Vorfeld der WM gesagt. Ihr Wort hat in den USA durchaus Gewicht. Sie war von Mitte der 1990er-Jahre bis 2007 Stammkeeperin des Nationalteams. Auf Scurry folgte dann in Hope Solo eine weitere Weltklasse-Schlussfrau. Hätte die "Skandalnudel" sich nicht nach dem Olympia-Aus 2016 gegen Schweden ("Ein Haufen Feiglinge") selbst ins Aus katapultiert, Naeher wäre wohl wie 2015 bei der WM in Kanada nun auch in Frankreich nur Ersatz gewesen.

Die Fußstapfen, in die sie treten musste, sind also unendlich groß. Seit 1991 standen lediglich drei Keeperinnen bei K.o.-Spielen von Weltmeisterschaften im amerikanischen Kasten: Scurry, Solo und Naeher. Es bedurfte wohl eines solchen magischen Abends für sie, um aus dem Schatten ihrer Vorgängerinnen herauszutreten.

Rapinoe: "Ein königlich großer Moment"

Szene aus dem WM-Spiel England gegen USA: Stürmerin Megan Rapinoe umarmt Torhüterin Alyssa Naeher (r.). © dpa picture alliance/ABACAPRESS Foto: David Niviere

Stolz auf ihre Keeperin: US-Stürmerin Megan Rapinoe.

Als der Schlusspfiff in Lyon ertönte und der 2:1-Erfolg perfekt war, stürmten alle ihre Mitspielerinnen auf die Torhüterin zu. Sie schienen gar nicht mehr aufhören zu wollen, sie zu knuddeln. "Heute hat sie uns den Arsch gerettet", brachte Angreiferin Alex Morgan die amerikanische Gefühlswelt auf den Punkt. "Heilige Sch..., das ist ein königlich großer Moment", sagte die angeschlagen fehlende Starstürmerin Megan Rapinoe. Und deren Vertreterin Christen Press meinte mit einem Kloß im Hals: "Ich habe keine Worte dafür, um auszudrücken, wie stolz ich persönlich auf Alyssa und unser Team bin."

All diese Reaktionen zeigten, wie hoch die Wertschätzung innerhalb des Teams für die in der amerikanischen Öffentlichkeit nicht unumstrittene Schlussfrau ist. Geht es nach Trainerin Jill Ellis, sollten die Skeptiker aber spätestens jetzt schweigen: "Die Leute fangen gerade erst an, Einblicke in das zu bekommen, was ich jeden Tag im Training sehe. Ich glaube, dass sie sich gerade einen Namen macht. Das ist fantastisch."

Naeher gibt Lob an die Mannschaft weiter

Naeher selbst nahm den Trubel um ihre Person ganz cool hin - so, wie sie Houghtons Strafstoß pariert hatte. Unaufgeregt und geduldig stellte sie sich den Fragen der Journalisten. Ihren eigenen Anteil am Finaleinzug der USA versuchte die Keeperin der Chicago Red Stars dabei immer wieder herunterzuspielen. "Ich bin einfach glücklich, der Mannschaft geholfen zu haben, ins Endspiel zu kommen. Aber es sind alle 23 Spielerinnen daran beteiligt. Wir sind ein besonderes Team", sagte die 31-Jährige und sprach ihren Mannschaftskameradinnen beinahe im selben Atemzug noch ein großes Lob aus: "Sie waren immer für mich da."

Sprach's, verabschiedete sich höflich von den Medienschaffenden und verschwand im Stadionbauch. Ob Naeher dort im Kreise ihrer Mitspielerinnen etwas emotionaler als vor der schreibenden Zunft wurde, ist nicht überliefert. Verteidigerin Becky Sauerbrunn hatte daran aber so ihre Zweifel: "Wahrscheinlich steigt sie in den Bus, macht ein Kreuzworträtsel und denkt bereits an das nächste Spiel."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | FIFA Frauen WM 2019 | 08.06.2019 | 16:00 Uhr

Stand: 03.07.19 15:34 Uhr